Nieuws vandaag

Kiel – Koffer treibt an. Darin: armloser Frauenkörper. Schock: Der Namensanhänger gehört dem Finder. Und im Nebel nähert sich jemand.

Der Wind uber der Kieler Förde war schneidend kalt an jenem fruhen Morgen, als Henrik Möller – 42 Jahre alt, alleinstehend, ein Mann der Routine – wie jeden Samstag seine Angeln auswarf. Das Wasser war ruhig, fast unheimlich still, und nur das dumpfe Klappern der Metallringe an seiner Rute durchbrach die Stille. Henrik mochte solche Tage: keine Touristen, keine Stimmen, nur er und das endlose Grau des Himmels.

Doch an diesem Tag wirkte selbst das Wasser anders. Dunkler. Schwere Schatten lagen unter der Oberfläche, als wurde etwas tief unten lauern und darauf warten, gesehen zu werden.

Es begann mit einem Geräusch – einem dumpfen Schlag gegen den Steg. Henrik zuckte zusammen, drehte sich um und sah im Dunst etwas Dunkles treiben. Ein länglicher Gegenstand. Er dachte zunächst an Treibholz, doch als die Strömung es näher anspulte, erkannte er die eckige Form. Ein Koffer. Ein alter, abgewetzter Hartschalenkoffer, mit rostigen Metallschnallen und einer Seite eingedellt, als hätte jemand mit brutaler Gewalt darauf eingeschlagen.

Ein fröstelndes Gefuhl kroch ihm uber den Rucken. Koffer treiben normalerweise nicht allein in dieser Gegend. Nicht so weit draußen.

Henrik kniete sich hin, zog das Ding an Bord des Stegs und schob es vorsichtig zu sich heran. Der Koffer war uberraschend schwer. Unerwartet schwer.

„Was zum…?“, murmelte er, während er eine der Schnallen löste. Das Metall knackte und splitterte, als wäre es kurzlich gebogen worden. Dann hob er den Deckel.

Der Geruch traf ihn wie ein Schlag. Eine Mischung aus Verwesung, feuchtem Stoff und etwas Sußlichem. Sein Magen rebellierte sofort.

Im Inneren lag ein Körper.

Der einer Frau.

Oder besser gesagt: das, was von ihr ubrig war.

Der Oberkörper war verstummelt, beide Arme fehlten vollständig. Der Kopf lag seltsam schief, die Haut war grau, die Lippen aufgequollen. Einige Strähnen blonder Haare klebten an der Innenseite des Koffers, als hätten sie versucht, sich herauszukrallen. Auf ihrem Kleid – ein ehemals weißes Sommerkleid – zogen sich dunkle Linien, wie Schmierspuren vergangener Kämpfe.

Henrik taumelte zuruck, schlug gegen den Geländerpfosten und keuchte nach Luft. Sein Herz raste. Seine Finger zitterten unkontrolliert.

Doch dann bemerkte er etwas, das ihn völlig zu erstarren brachte.

In einer Seitentasche des Koffers steckte ein Etikett. Ein Adressanhänger aus Leder. Alt, aber gepflegt. Sauberer als der Rest des Koffers.

Henrik griff mit zitternder Hand danach, zog den Anhänger heraus und drehte ihn um.

Darauf stand sein Name.

„Henrik Möller, Kiel – Holtenauer Straße 53.“

Seine Adresse. Seine Handschrift. Sein alter Gepäckanhänger von einer Reise, die er vor Jahren gemacht hatte. Der Anhänger war eindeutig seiner. Allerdings war er blutverschmiert – mit eingetrockneten bräunlichen Flecken, die die Buchstaben halb verdeckten.

Henriks Beine wurden weich. Der Koffer. Die Leiche. Der Anhänger. Warum…? Wer…?

Er hörte das Knacken einer Planke. Jemand war auf dem Steg.

Er wirbelte herum – aber niemand war da.

Nur Nebel.

Dichter, schwerer Nebel, der plötzlich von der Wasseroberfläche aufgestiegen war und den gesamten Steg einhullte. So dicht, dass er kaum seine eigenen Schuhe sehen konnte.

Ein leises Tropfen ertönte.

Tropf. Tropf. Tropf.

Nicht vom Koffer. Nicht vom Wasser.

Von oben.

Henrik hob langsam den Kopf.

Über ihm hing nichts – und trotzdem hörte er es immer wieder. Tropf. Tropf. Tropf. Ein kaltes Gefuhl rann ihm den Hals hinunter, als wären Blicke auf ihn gerichtet. Unsichtbar und nah.

Er packte sein Handy. Kein Empfang. Meridianfalle, dachte er panisch. Der Nebel störte manchmal die Verbindung – aber so stark? Noch nie.

Er wollte weglaufen, irgendwen rufen, doch seine Fuße fuhlten sich schwer an. Bewegungen wurden muhsam, als wurde etwas Unsichtbares an seinen Knochen ziehen.

Dann vibrierte sein Handy. Eine Nachricht.

Absender: Unbekannt

Inhalt: „Warum hast du sie im Stich gelassen?“

Henrik ließ das Handy fallen. Seine Kehle wurde eng. Er konnte kaum atmen. Seine Gedanken uberschlugen sich.

Er hatte niemanden „im Stich gelassen“. Er kannte die Frau nicht. Den Koffer nicht. Dies war ein Albtraum, ein Fehler, ein… eine Falle.

Doch bevor er sich sammeln konnte, vibrierte das Handy erneut.

Zweite Nachricht: „Schau nochmal genau hin.“

Henrik blickte auf den Koffer. Auf die tote Frau.

Und plötzlich sah er es: Unter dem Kleid lugte eine Narbe hervor. Eine lange, dunne Linie uber die linke Seite ihres Brustkorbs. Eine Operation. Eine, die er kannte.

Er selbst hatte sie vor Jahren gesehen.

An Hannah.

Hannah. Seine Ex-Freundin. Verschwunden vor drei Jahren. Ohne Spur.

Sein Herz schlug so heftig, dass er dachte, es wurde seine Rippen sprengen.

Doch das Gesicht im Koffer… war ihres nicht mehr erkennbar. Aber die Größe… die Haare… die Narbe…

„Nein… Nein, das ist unmöglich…“

Er taumelte zuruck und fiel beinahe ins Wasser.

Dann – Schritte.

Dieses Mal klar und deutlich.

Schwere Schritte. Langsam. Gleichmäßig. Wie jemand, der wusste, dass er nicht schnell gehen musste.

Henrik drehte sich im Nebel, versuchte etwas zu erkennen, aber alles war milchig weiß.

„Hallo!? Wer ist da!?“

Keine Antwort.

Nur Schritte, die näher kamen.

Und dann eine Stimme. Leise. Kratzend. Direkt hinter ihm.

„Henrik… es fängt gerade erst an.“

Der Nebel öffnete sich wie ein aufziehender Vorhang.

Eine Gestalt.

Schwarz gekleidet.

Eine Maske. Weiß. Glatt. Ohne Augen.

Henrik wollte schreien – doch die Gestalt hob nur die Hand, ganz ruhig, ganz sacht.

In der anderen Hand hielt sie etwas.

Henrik erkannte es.

Seinen zweiten Koffer.

Den, den er zu Hause im Keller aufbewahrte.

Und dann – Stille.

Nur der Nebel, das Wasser, und die Gewissheit:

Jemand hatte alles geplant. Jemand kannte ihn. Jemand spielte ein Spiel, das gerade erst begonnen hatte.

Und Henrik stand im Zentrum davon.

Allein.

Unbewaffnet.

Und bereits tief drinnen in einer Geschichte, aus der niemand lebend herauskam.

LEAVE A RESPONSE

Your email address will not be published. Required fields are marked *